Asbest

Die Geschichte einer unendlichen Faser

Sophia Heller

Still und friedlich schichten sich in Deutschland kleine Hügel in der Nähe von Autobahnen, Landstraßen oder kleinen Ortschaften in einer sonst flachen homogenen Landschaft auf. Keine erhöhte Topografie, Wälder oder kleinere Berge in der nahen Umgebung lassen darauf schließen sich in einem gebirgsähnlichen Umfeld zu befinden. Die Vegetation der Hügel ist oft von Gräsern und kleineren Pflanzen oder Bäumen geprägt. Manchmal findet man auch weidende Schafe vor, die den Betrachtenden einen idyllischen Eindruck vermitteln. Was sich jedoch dahinter verbirgt, ist oftmals ein weniger idyllisches Bild und nur wenigen Menschen bewusst: Es handelt sich teilweise um Asbesthalden, die ein großes Erbe der Bauindustrie der 1950er bis 1990er Jahre wahren. In luftdicht verpackten Taschen und von mehreren Schutzfolien ummantelt schlummern Altlasten und Schadstoffe unter der Erde, die sich bei der kleinsten Freisetzung schädigend auf Mensch und Natur auswirken können [1]. Die Halden sind Zeugnis einer vergangenen weltweiten Industrie. Sie verbergen die Geschichte einer mineralischen Faser, die aufgrund ihrer besonderen Eigenschaften die Baubranche revolutionierte und gleichermaßen das gesundheitliche Schicksal der betroffenen Gesellschaften bis heute beeinflusst. Großflächig verbaut wurde der auch «Wunderfaser» genannte Asbest im Wohnungsbau oder öffentlichen Bauten wie Behörden und Krankenhäusern. Hauptanteil der verbauten asbesthaltigen Materialien macht dabei Faserzement aus. Auch Fußbodenbeläge, Dichtungen, Kleber, Rohre und Textilien können Asbestfasern aufweisen [2]. Ein Teil der asbesthaltigen Baustoffe wurde im Zuge von Sanierungs- und Rückbaumaßnahmen bereits entsorgt. Es ist jedoch davon auszugehen, dass der Großteil der Baustoffmengen in Form von Fassaden- und Brandschutzbekleidungen oder auch Wasserleitungen heute noch verbaut ist und in den nächsten Jahren abgebrochen und entsorgt werden muss. Eine genaue Abschätzung der bereits entsorgten und noch zu entsorgenden nicht recyclebaren Altlasten ist aufgrund unzureichender Dokumentation und einer fehlenden Datengrundlage nicht möglich. Demgegenüber gibt es konkrete Zahlen über Erkrankungen und Todesfälle betroffener Personen, die aus beruflichen Gründen oder durch Hobbyhandwerken mit dem Mineral in Kontakt gekommen sind. Aus Statistiken des Bundesarbeitsministeriums und des Deutschen Gewerkschaftsbunds konnte ermittelt werden, dass die Zahl der beruflichen Asbestbetroffenen in Deutschland bei minimal 840.000 und maximal 4.000.000 liegt. Darüber hinaus kommen noch Millionen Kontaktpersonen oder Heimwerkende hinzu, die von offiziellen Ämtern nicht erfasst sind. Aufgrund des „Asbestbooms“ der 1970er Jahre und der langen Latenzzeit zwischen Asbestbelastung und Krebserkrankung, ist davon auszugehen, dass sich die Zahlen in den kommenden Jahren erhöhen werden [3].

Die Geschichte des Minerals Asbest, dessen Namensgebung auf das griechische Wort «unvergänglich» oder auch «unzerstörbar» zurückgeht, reicht weit bis in die Antike und galt viele Jahrhunderte als «Zaubermineral». Es wurde im Tagebau auf Zypern gewonnen und zu Asbesttextilien versponnen. In der Antike galt die Wunderfaser als Luxusgut und war nur König*innen und Priester*innen vorbehalten. Aus der Faser wurden Textilien wie Totenkleider angefertigt, die die Asche des Körpers von der übrigen Asche trennen sollten. Es wurden ebenfalls Leichenverbrennungstücher, Matten und Dochte für Tempellampen hergestellt. Im Mittelalter geriet das Mineral wieder in Vergessenheit, einzig Mythen und Anekdoten um die Wunderfaser blieben bestehen. So soll Karl der Große seine Gäste mit einem nicht brennbaren Tischtuch begeistert haben und Marco Polo berichtete 1300 von einem besonderen Gewebe, welches der Macht des Feuers vollends widersteht [1]. 

Abbildung 1: Illustration aus Antonio Vanossis
„Der Mann im Asbest – Das Gewand aus Steinflachs“
(1831), lizenzfrei

Die Asbestindustrie begann 1850 mit der Entdeckung von großen Chrysotilvorkommen in der Provinz Quebec in Kanada. Den industriellen Durchbruch erfuhr die Faser mit der Erfindung der Dampfmaschine, als säure- und hitzebeständige Dichtungen benötigt wurden. Noch bis zum Ende des 20. Jahrhunderts galt Asbest als Rohstoff der unzähligen Möglichkeiten für die moderne Industriegesellschaft. Aufgrund der vielfältigen Eigenschaften wie Hitzebeständigkeit, schwerer Entflammbarkeit, Elastizität, Säurebeständigkeit und guter Isolation wurde Asbest in der Baustoffbranche vor allem als Dämm- und Filtermaterial und zur Verstärkung von Zementplatten («Eternit») eingesetzt. Auch in Alltagsgegenständen fand Asbest große Verwendung. In Form von feinen Faserbändern oder dichten Adern, eingeklemmt zwischen Blöcken oder einzelnen Schichten feinkörnigen Gesteins wird Asbest noch heute aus natürlichen Mineralvorkommen im Tagebau in Russland, China oder Kasachstan gewonnen. Je nach Gestein und Faserqualität liegen verschiedene Faserarten mit unterschiedlicher chemischer Zusammensetzung vor. Chrysotil (Weißasbest), Krokydolith (Blauasbest) und Amosit (Braunasbest) sind dabei die bekanntesten Asbestarten. Für die Gewinnung in den Asbestminen werden 10 – 30 m hohe Stufen in den Boden der kilometerlangen Gruben geschnitten, damit Bohrmaschinen, Bagger und Kipper arbeiten können. Es benötigt spiralförmig angelegte Rampen oder Aufzüge, um das Gestein nach oben transportieren zu können. Die Gesteine werden zur weiteren Verarbeitung in Brocken bis etwa 1 m Durchmesser zerkleinert und an Asbestwerke geliefert. Vor Ort werden die Rohasbeststücke aufbereitet, durch Hämmern gelöst und in großen Mahlwerken zerbrochen. Durch Quetschen und Pressen werden die Asbestadern freigelegt und die Fasern in weiteren Stufen durch ein Rüttelsieb nach Längenklassen getrennt. Daraufhin werden die gewonnen Fasern unter Druck in rechteckige Säcke gepresst und zur weiteren Verarbeitung in viele Länder exportiert [1]. Auch die damalige Bundesrepublik Deutschland gehörte zu den aktiven Importländern, da in der BRD keine Asbestminen bekannt waren. Zwischen 1950 und 1990 wurden insgesamt 4,35 Mio. Tonnen Asbestminerale importiert, wovon Chrysotil, Weißasbest, den größten Teil mit ca. 96 Prozent ausmachte. Verwendung fand Asbest überwiegend in der Bauindustrie. Das Mineral wurde in Textilien, Fußbodenbelägen, Klebern, Rohren und hauptsächlich in Zementplatten eingesetzt [2]. Man geht davon aus, dass in den 1970er Jahren zu Zeiten des „Asbestbooms“ circa 200 000 Tonnen Asbest in der ehemaligen Bundesrepublik verarbeitet wurden [4] – Zahlen, die nur wenig fassbar sind. Nachdem nachgewiesen wurde, dass Atemwegserkrankungen wie Asbestose, Brustfellkrebs (Mesotheliom) und Lungen- oder Kehlkopfkrebs eng mit dem Mineral in Zusammenhang stehen, wurde 1993 die Verwendung von asbesthaltigen Materialien in Deutschland verboten [1]. Heute wird das Ausmaß der Verwendung von Asbest durch seine Altlasten deutlich erkennbar: Seit dem flächendeckenden Verbot wird ein Großteil der asbestbelasteten Gebäude zurückgebaut oder saniert.

Um den Umgang mit den kontaminierten Altlasten sowie der Entsorgung besser zu verstehen, setze ich mich mit einem Abbruchunternehmen in Hamburg in Verbindung, welches für Asbestsanierungen zertifiziert ist. «Abbruch und Verwertungsgesellschaft Nord GmbH» ist ein Abbruchunternehmen mit Sitz in Hamburg-Groß Borstel, welches auf Rück- und Umbau von Bunkeranlagen sowie Abbrucharbeiten spezialisiert ist. An einem warmen Junitag mache ich mich auf den Weg zu einer ehemaligen Grundschule in Barmbek Süd. Ich bin mit Herrn Sperling, dem Geschäftsführer des Unternehmens zu einer Baustellenbesichtigung sowie einem Interview verabredet. Von einer dicht befahrenen Hauptstraße biege ich zu Fuß in eine ruhigere Nebenstraße ein und kann schon von Weitem ein mit Bauzäunen umgebenes Gebäude erkennen: Die «Sophienschule», ein zweigeschossiger Rotklinkerbau mit sichtbarem Tragskelett aus Beton und weißen Aluminiumfenstern, die über einen Vorplatz mit der gleichnamigen Kirche verbunden ist. 

Abbildung 2: Außenansicht der „Sophienschule“
in Barmbek Süd (Hamburg), © Sophia Heller, 
Lizenz: CC – BY – SA

Da Dach und Teile der Fassade durch Witterung beeinträchtigt wurden und auch im Inneren des Gebäudes Schäden, hauptsächlich an den Fensterbänken, aufgetreten sind, ist das Gebäude stark sanierungsbedürftig. Allerdings lauern auch in Kleberesten, Wandputzen und in den Ventilen der Installationsrohre feine Asbestfasern. Ich betrachte das Gebäude. Es macht von Außen keinen besonderen Eindruck auf mich – vor allem ist nicht zu erahnen, dass sich in den verwendeten Baustoffen für den Menschen gefährliche asbesthaltige Materialien befinden. Einzig das Baujahr, das Gebäude stammt aus den 1960er Jahren, gibt einen Hinweis darauf. Die große Herausforderung bei derartigen Sanierungsarbeiten liegt darin, dass es den meisten Gebäuden nicht anzusehen ist, dass sie aus asbesthaltigen Baustoffen konstruiert wurden. Asbestfasern sind nicht immer gefährlich für den Menschen. Solange alle Bauteile verschlossen sind und keine Schäden aufweisen, können die Fasern nicht austreten und sich in der Luft ausbreiten [1]. Herr Sperling erwartet mich bereits am gläsernen Eingangsportal der Schule. Zusammen gehen wir um das Gebäude herum, heben einen Bauzaun aus der Verankerung und betreten das Grundstück. Ich stehe auf einem großen Hof, von dem ich annehme, dass es sich um den ehemaligen Pausenhof handelt. Um mich herum befinden sich einige Baustellenfahrzeuge, kleinere Transportwägen und Baustellencontainer. Direkt springen mir drei große weiße Entsorgungscontainer ins Auge, die randvoll mit prallen Säcken gefüllt sind. Ächzend und mit einem lauten Aufprall fällt eine Holzplanke neben dem Container auf den Boden und ich vernehme ein lautes Hämmern aus den oberen Stockwerken. Gemeinsam gehen wir an den Containern vorbei über einen Nebeneingang in das Innere des Gebäudes und stehen in der ehemaligen Aula der Schule. In der staubigen Halle ist es relativ dunkel, da die großflächigen Fenster zum Teil mit Folien verklebt sind. Der beigefarbene Linoleumboden unter meinen Füßen gibt unter jedem Schritt ein wenig nach. Manche Stellen des Bodens sind aufgeschnitten und mit einem großen Buchstaben «A» oder dem Wort «Asbest» versehen. Ein mulmiges Gefühl macht sich in mir breit. Ich bin von gesundheitsgefährdenden Stoffen umgeben, aber kann die Gefahr, die von ihnen ausgeht, mit bloßem Auge überhaupt nicht erkennen. Die Fasern sind geruchlos, können bis zu 500-mal dünner als ein Haar sein und zersetzen sich stetig weiter [4]. 

Abbildung 3: Rasterelektronenmikroskopie von Anthophyllit-Asbest,
© United States Geological Survey, Lizenz: CC – BY 2.0 (Titel geändert)

Umso wichtiger ist es, Mitarbeiter*innen vor der gefährlichen Staubexposition zu schützen. Zur Standardausrüstung auf der Baustelle gehören FFP2- bis Vollmasken, Schutzkleidung und Handschuhe. Je nach Konzentration der Faser in den Bauteilen und der Dauer der Aussetzung mit kontaminierter Luft müssen unterschiedliche Sicherheitsstufen eingehalten werden. Ebenfalls muss ein Unternehmen eine Zertifizierung oder einen Schulungsbeleg vorweisen, um offizielle Asbestarbeiten vornehmen zu können. Allerdings ist es ausreichend, wenn nur eine Person des Betriebs diese durchläuft und Kolleg*innen darauffolgend anlernt [1]. Da einige Asbestarbeiten in der „Sophienschule“ abgeschlossen und die noch zu sanierenden Bauteile großflächig abgesperrt sind, wurden mir keinerlei Schutzmittel angeboten. Wir durchqueren nun die Halle und laufen durch einen langen Korridor, von dem rechts und links einzelne Zimmer abgehen. Einige der Türen sind mit einer dichten braunen Folie abgeklebt. Die Mitte der Folie ist mit einem großen roten Kreis und einer Person, die mit einer flachen ausgetreckten Hand vermittelt, dass es hier kein Durchkommen ist, bedruckt. In großen Lettern steht geschrieben „Asbestfasern!“. Die Übergänge der Folie am Türrahmen sind mit einer weiteren blauen Folie verstärkt. Neugierig bleibe ich stehen. Mir bleibt ein Blick hinter die Folie verwehrt, da in dem dahinterliegenden Raum große Asbestmengen gefunden wurden. Hauptsächlich wurde die Faser in Kleberresten unter dem Fußboden und in den Fensterbänken nachgewiesen. Aufgrund der hohen Konzentration ist das Betreten dieses Raumes nur mit voller Schutzkleidung möglich. Bevor eine Sanierung oder Abbrucharbeiten durchgeführt werden können, entnimmt eine*n Sachverständige*r punktuelle Proben und analysiert diese im Labor. Dort wird untersucht, ob asbesthaltige Fasern in den Baustoffen enthalten sind, wie hoch die Konzentration ist und um welche Art des Minerals es sich handelt. Eine wichtige Analyse, um ordnungsgemäß und mit entsprechenden Sicherheitsvorkehrungen die Arbeiten vorzunehmen. Bei Asbestfasern unterscheidet man zwischen fest- und schwach gebundenen Fasern. Fest gebundener Asbest weist einen Faseranteil von 10-15% auf und ist komplett von Zement umschlossen. Die Fasern werden nur durch mechanische oder thermische Einwirkungen freigesetzt und sind hauptsächlich als Faserzement in Dachplatten, Floor-Flex-Platten oder alten Blumenkästen enthalten. Grundlegend ist fest gebundener Asbest für den Menschen unbedenklich, solange das Bauteil vollständig intakt ist und keine Exposition eintreten kann. Der Abbruch schwach gebundener Fasern gestaltet sich aufwendiger und gefährlicher, da die Fasern für das ungeschulte menschliche Auge nicht sichtbar sind und sie bereits bei kleinen Erschütterungen freigesetzt werden. Das Risiko einer schädlichen Exposition ist hoch. Der Anteil der Fasern ist mit 60% deutlich höher und lässt sich in Spritzasbest, in Leichtbauplatten oder auch Isolierungen von Elektroinstallationen wie Nachtspeicheröfen oder Heizkessel nachweisen. Bei hohen Konzentrationen schwach gebundener Fasern wird der Raum mit Hilfe eines Unterdruckmanometers abgedichtet. In der Regel wird durch ein Messgerät stets die aktuelle Konzentration der Fasern gemessen. Es sollte unbedingt vermieden werden, dass Gefahrenstoffe aus dem Gebäude austreten und die Fasern sich unkontrolliert weiter in die Luft freisetzen. Ein Umluftgerät sorgt für zirkulierende Luft im Arbeitsbereich, wodurch relativ expositionsarme Arbeit gewährleistet werden kann. In Fällen, in denen größere Mengen der Fasern austreten, kommt ein Mehrkammersystem mit mehreren aneinandergereihten luftdichten Containern, die als Schleusen fungieren, zum Einsatz. Vier Kammern mit unterschiedlichen Maßnahmen sollen ein sicheres Ein- und Ausschleusen gewährleisten. In der ersten Kammer entledigt sich die Fachkraft der eigenen Klamotten und setzt eine Maske auf. Nach durchqueren der zweiten Kammer, die ausschließlich beim Ausschleusen relevant ist, wird in der dritten Kammer die Sicherheitskleidung angelegt und man gelangt durch einen Vorraum, der vierten Kammer, in den Arbeitsbereich. Das Ausschleusen stellt einen aufwendigeren Prozess dar: Hier fungiert die vierte Kammer als Absaugzone. Die kontaminierten Kleider sowie Schuhe werden gereinigt. Zurück in der dritten Kammer wird die Schutzkleidung exklusive der Maske abgelegt und entsorgt. In der zweiten Kammer ist eine Dusche installiert. Hier muss sich die Fachkraft inklusive Maske duschen und diese anschließend nach dem Ablegen noch einmal reinigen. Nach diesem Ablauf werden in der ersten Kammer die eigenen Klamotten wieder angelegt [5].

Ich betrachte immer noch die Folie. Eine gruselige Vorstellung, dass sie die einzige Barriere zwischen mir und den gesundheitsschädlichen Fasern darstellt. Es ist für mich kaum vorstellbar, dass ein kleines Loch oder eine undichte Folie ausreichen würde, dem Asbest ausgeliefert zu sein; und durch das Ausbreiten in der Luft kann auch die Gesundheit weiterer Menschen in Gefahr gebracht werden. Ein Luftzug durch Mund oder Nase bewirkt, dass die unsichtbaren Fasern unbemerkt in die Lunge gelangen und sich dort tief im Gewebe festsetzen können. Das Risiko für eine schwere Erkrankung steigt mit Häufigkeit, Dauer und Intensität der Expositionen. Erste Symptome einer durch Asbest bedingten Erkrankung stellen Husten, wiederholendes starkes Räuspern, Kurzatmigkeit sowie angeschwollene Fingerkuppen da. Bei dem Versuch des menschlichen Abwehrsystems die Eindringlinge zu bekämpfen, werden die körpereigenen Immunzellen geschädigt und sterben ab. Das Tückische an asbestbedingten Erkrankungen ist, dass die Latenzzeit bei durchschnittlich 30 Jahren liegen kann und die Erkrankung unheilbar ist. Schätzungen der Gesundheitsvorsorge (GVS) über Krankheitslast durch Asbest besagen, dass im Jahre 2012 circa 64% aller berufsbedingten Todesfälle mit asbestbedingten Erkrankungen in Zusammenhang stehen. Dabei macht Brustfellkrebs mit 34% den größten Anteil aus, gefolgt von Lungen- und Kehlkopfkrebs mit 24%, sowie Silikose mit 14% [2]. Dass das Mineral eine verhängnisvolle Kehrseite aufweist, wird erstmalig in einem Bericht von 1924 über eine asbestbedingte Lungenkrankheit erwähnt. Die durch Asbestfeinstaub verursachte Asbestose wird daraufhin als Berufskrankheit anerkannt. Viele Jahre vergehen bis in den 70ern erste Diskussionen über die gesundheitliche Gefährdung durch schwach gebundenen Spritzasbest in den Mittelpunkt rückt und die Herstellung sowie Verwendung letztendlich 1979 verboten wird. Fest gebundene Asbestprodukte wurden trotz alledem weiter produziert, bis auch diese 1993 in Deutschland verboten wurden. 2005 folgte das flächendeckende Verbot in Europa [1].

Abbildung 4: Arbeiterin ohne Schutzkleidung an einer Maschine,
die Asbestfasern kardiert (1944), © Harry Rowed,
Lizenz: CC – BY 2.0 (Titel geändert)

Wir durchqueren den Korridor und gehen über eine geflieste Treppe in das obere Stockwerk. Meine Gedanken kreisen umher. Wie muss es den vielen Menschen ergangen sein, die zu Beginn der Industrialisierung dem Asbeststaub ohne jegliche Schutzkleidung ausgeliefert waren? Zu einer Zeit in der der Schutz der Gesundheit am Arbeitsplatz und die Anerkennung einer Berufskrankheit in weiter Ferne lag? Seit den 1970er Jahren haben sich sowohl Technologien am Arbeitsplatz weiterentwickelt als auch die Gesundheitsvorsorge (GVS) deutschlandweit mit der Kontrolle des Gesundheitszustands aller Asbestexponierten und ehemaligen Exponierten begonnen. Der*Die Arbeitgeber*in ist den Mitarbeiter*innen gegenüber verpflichtet eine jährliche Vorsorgeuntersuchung zu ermöglichen. Sie setzt sich zum Ziel Erkrankungen frühzeitig zu erkennen und dadurch ein Ausbrechen zu verzögern. Leider gibt es ebenfalls Betriebsärzt*innen, die fälschlicherweise Asthma oder andere Atemwegserkrankungen diagnostizieren. Betroffene geraten schnell in Vergessenheit und erlangen kaum Zugriff auf Therapiemöglichkeiten. Es ist ebenfalls davon auszugehen, dass nicht alle betroffenen Arbeitnehmer*innen von den Arbeitgeber*innen gemeldet werden. Die asbestbezogene Berufskrankheitenrente tritt erstmalig 1975 in Kraft. Begründet wird dies mit dem erhöhtem Asbestaufkommen während der 1960er- und 1970er Jahre. Die Versicherung kommt bei vollständigem Verlust der Erwerbstätigkeit für eine Vollrente auf, die zwei Dritteln des ursprünglichen Jahresverdienstes entspricht. Sie bleibt unter bestimmten Umständen lebenslang bestehen und ist bei tödlichem Ausgang zu finanziellen Leistungen an die Hinterbliebenen verpflichtet. Allerdings greift diese Versicherung ausschließlich bei einer Vollzeitanstellung [2]. Rrrrrums … ich werde aus meinen Gedanken gerissen. Wir stehen im zweiten Obergeschoss in einem großen lichtdurchfluteten Raum. Ein Handwerker wirft erneut eine Holzplanke aus dem Fenster, die im Hof neben dem Abfallcontainern landet. Im Nebenraum vernehme ich eine Säge und ein leichtes Klopfen. Vor mir türmt sich auf einem verstaubten roten Linoleumboden ein Berg großer weißer Kunststofftüten auf – dieselben, die ich in den Abfallcontainern am Nebeneingang erspäht hatte. Es handelt sich um so genannte Big Bags, 1m3 bis 1,5mgroße reißfeste, verschließbare Säcke aus Kunststoffgewebe. Der Inhalt dieser Big Bags besteht aus etlichen Baustoffen mit unzähligen schwach und festgebundenen Fasern. Sie werden auf der Baustelle gesammelt und von einer geprüften Sonderdeponie abgeholt und anschließend entsorgt. Alle asbesthaltigen Materialien gehören zu den nicht recycelbaren Schadstoffen und sind dementsprechend Sondermüll, der nicht auf herkömmliche Art entsorgt werden kann. In Deutschland befindet sich in jeder großen Stadt oder Landkreis eine Sonderdeponie, die für eine fachgemäße Entsorgung zuständig ist. Dort werden Altlasten gesammelt und schließlich in Asbesthalden umgewandelt [5]. Allerdings birgt die Beseitigung ebenfalls Gefahren, da nicht gewährleistet werden kann, dass der Müll ordnungsgemäß entsorgt wird. Reportagen haben gezeigt, dass es sich nicht ausschließen lässt, dass er in Drittländer verschifft wird, um Kosten einzusparen [6]. 

Abbildung 5: Entsorgung von Asbest in Big Bags (2023),
© Sophia Heller, Lizenz: CC – BY – SA

Die Big Bags geben den unsichtbaren Fasern auf einmal ein Gesicht. Die gesundheitliche Gefahr für den Menschen wird für mich plötzlich sichtbar. Die Umweltbelastung kann ich trotz fehlender Datenbasis erahnen, sie bleibt jedoch schwer greifbar. Auf dem Weg zurück zum gläsernen Hauptportal, bin ich tief bewegt. Durch diesen Besuch habe ich ein Bewusstsein dafür entwickelt, wie wenig ich zuvor über das tatsächliche Ausmaß der Gefährdung durch Asbest und den Umgang mit dem krebserregenden Material wusste. Ob es der breiten Bevölkerung genauso geht? Dank neuer Technologien und Gesetze werden Arbeiter*innen besser vor Asbestexposition und den damit verbundenen Folgeerkrankungen geschützt. Doch wie viel Zeit ist vergangen, zwischen wissenschaftlichen Erkenntnissen und der Umsetzung in der Realität? Viele Menschen haben durch das Arbeitsschutz- und das Berufskrankheitenrecht eine Stimme bekommen. Wie ich von einem anonymen Kontakt aus einer Selbsthilfegruppe von Expositionsbetroffenen erfahren habe, versuchen einige noch gehört zu werden. Aufgrund des großen „Asbestbooms“ der 1970er Jahre und der langen Latenzzeit werden es in den kommenden Jahren noch viele Betroffene mehr sein – werden sie angemessene Hilfe finden oder bleibt ihr Leiden so unsichtbar wie die Fasern, denen sie ausgesetzt waren?

Abbildung 6: Asbestsanierung – die unsichtbare Gefahr
(2023), © Sophia Heller, Lizenz: CC – BY – SA

[Lizenz: CC – BY – SA]

Quellen:

[1] D. Veit. 2023. Fasern – Geschichte, Erzeugung, Eigenschaften, Markt. Springer Vieweg: Berlin.
[2] Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin. 2015. Nationales Asbest-Profil Deutschland. Bonifatius: Paderborn.
[3] Konietzko, N. und Teschler, H. 1992. Asbest und Lunge. Steinkopff Verlag: Dresden.
[4] Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR). 2010. „Gefahrstoff Asbest“. BBSR-Berichte KOMPAKT 2. Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (BBR): Bonn. 
[5] Bogusch, N. und Brandhorst, J. 2013. Sanieren oder Abreißen. Frauenhofer-IRB-Verlag: Stuttgart.
[6] Dandois, T. und Spalaïkovich, A. 2022. Asbest, eine unendliche Geschichte. ARTE: Frankreich.