Reet

Traditioneller Baustoff mit Zukunft?

Luise Hartung

An einem warmen Sommerabend flaniere ich zu Fuß durch in die Innenstadt von Stade, einer kleinen Hansestadt an der Unterelbe, etwa 45 km von Hamburg entfernt. Vorbei an Reihen- und Mehrfamilienhäusern und durch ein Gewerbegebiet mit einer Schule finde ich mich schließlich auf einer weißen hölzernen Brücke wieder, welche über einen Burggraben führt. Das Holz knarrt unter meinen Schuhen und gibt leicht nach. Auf der rechten Seite entdecke ich ein ganz besonderes Gebäudeensemble auf einer Insel. Das Wasser umspült den grünen Landstreifen, ich rieche den Duft der in Blüte stehenden Pflanzen und unter mir fahren zwei Kajaks entlang. Die Idylle des Ortes lässt mich innehalten und zur Ruhe kommen. Mein Blick trifft auf das Fachwerkhaus im Vordergrund mit einem Schmuckgiebel aus weißen Holzbalken und rotem Mauerwerk. Die Ziegelflächen zeigen unterschiedlichste, aufwendige Mauerwerkstechniken. Zweifarbige Sprossenfenster lassen die Geschossigkeit des Gebäudes nachvollziehen. Im Hintergrund sind weitere Gebäude zu erkennen, ich sehe Sonnenschirme und einen Gastronomiebetrieb. Einige Besuchende bewegen sich auf dem Gelände und machen Fotos. Ein hervorstechendes Element hält meinen Blick ganz besonders an den Gebäuden: die großen Dachflächen, welche mit Schilfhalmen, dem so genannten Reet, das teilweise mit Moos bewachsen ist, gedeckt sind. Bei dem beschriebenen Ensemble handelt es sich um ein Freilichtmuseum, in dem es das Altländer Bauernhaus, ein Geestbauernhaus, eine Bockwindmühle und ein Backhaus zu besichtigen gibt. Anfang des 20. Jahrhunderts entstand die Idee auf der Insel ein Freilichtmuseum zu errichten und 1912 wurde das Geestbauernhaus von 1841 aus Varel, einer kleinen Stadt nordwestlich von Bremen, dort aufgebaut [1].

Abbildung 1: Freilichtmuseum Stade (2023), © Luise Hartung, Lizenz: CC – BY – SA

Wie die Errichtung des Freilichtmuseums in Stade bereits andeutet, begann das Handwerk des Reetdachdeckens weit in der Vergangenheit. Die ersten Reetdächer konnten bereits in der Jungsteinzeit ca. 2000 v. Chr. nachgewiesen werden. Unter günstigen Ansiedlungsbedingungen entstanden sie an der Nord- und Ostsee, im südlichen Skandinavien und Jütland. Errichtet wurden die Häuser mit natürlichen Baustoffen: Rundhölzer als Sparren, Knüppelholz als Lattung, Reet und Rohrkolbenschilf als Bedachungsmaterial. Aus diesen Baumaterialien wurde das sogenannte Rauchhaus erbaut, bei dem unter dem Dach ohne Schornstein im Haus dauerhaft eine brennende Feuerstelle unterhalten wurde. Der aufsteigende Rauch räucherte nicht nur Fleisch, sondern trocknete und konservierte zugleich das Reetdach. Durch die in der Eisenzeit ca. 500 v. Chr. hergestellten Nägel, Bolzen oder Beschläge konnten neue Verbindungen und im Reetdachhausbau neue Konstruktionen geschaffen werden. Das Einraumhaus konnte unterteilt und vergrößert werden, wobei die Größe des Hauses meist von Klima und Viehbestand abhing. Einige Jahrhunderte später wuchsen die Städte so, dass sie im Mittelalter wirtschaftliche, politische und religiöse Mittelpunkte wurden. Durch die ansteigende Bevölkerungsdichte war es wichtig, den Raum innerhalb der Stadtmauern optimal auszunutzen. Verschiedenste Bauweisen wurden entwickelt, die den Bedürfnissen der unterschiedlichen Bevölkerungsschichten entsprachen. Sobald jedoch ein Feuer in der Stadt ausbrach, waren Holzhäuser mit Reetdach stark gefährdet und im Laufe der Zeit wurden diese Gebäude durch Steinbauwerke mit harter Bedachung ersetzt. Im Gegensatz dazu bewährte sich das Reetdach weiterhin auf dem Land. Bis zum Mittelalter war das Decken eines Reetdaches Aufgabe der Hausbesitzenden und im Laufe der Zeit wurde das Handwerk Teil der Landwirtschaft. Als die Reetdachhäuser aus dem Stadtbild verschwanden, verlor die Spezialisierung dieses Handwerks im Mittelalter an Bedeutung. Seitdem war das Decken mit Reet Teil des Dachdeckerhandwerks. Erst 1946 wurden vier Innungen des Strohdachdeckerhandwerks gegründet, welche 24 Jahre später in Reetdachdecker-Innungen umbenannt wurden [2]. Die Handwerkskunst des Eindeckens der Reetdächer gilt seit 2014 als immaterielles Kulturerbe der UNESCO. Der Beruf des Reetdachdeckens basiert auf vielen mündlich überlieferten Traditionen und handwerklichen Gepflogen-heiten, die von Generation zu Generation durch die gemeinsame Arbeit übermittelt wurden [3]. 

Abbildung 2: Handwerker beim Decken eines Reetdaches (1940),
© SLUB / Deutsche Fotothek, Karl Theodor Gremmler, Lizenz: CC – PDM 1.0

Jemand, der dieses Handwerk im Landkreis Stade ausführt, ist Helmut Müller. Ich besuche ihn an einem Sommermorgen im Juni auf einer Baustelle in Gräpel, einem Dorf im Landkreis Stade. Mit dem Auto fahre ich in den kleinen Ortsteil, vorbei an landwirtschaftlich genutzten Höfen und Einfamilienhäusern. Die Klimaanlage bläst mir ins Gesicht, draußen ist es sehr warm. Als ich mich der Zieladresse nähere, bemerke ich bereits die strahlende Farbe des frischen Reets, welches durch die Häuserreihen immer wieder zu sehen ist. An meinem Ziel angekommen, verlasse ich das Auto und laufe auf die Baustelle. Ein roter Transporter mit Anhänger steht neben einem Container für Abfälle direkt vor dem Haus, rechts vor der Traufseite sehe ich eine große Menge an frischen Reetbündeln, welche teilweise noch mit einer blauen Plane abgedeckt sind. Das Dach selbst ist zu zwei Dritteln bereits mit Reet gedeckt. Ich entdecke eine kleine Gaube und sehe die Leitern auf der Dachfläche mit denen sich die Handwerker*innen auf dem Dach bewegen können. Der Geruch des Materials erinnert mich an Heu oder Stroh.

Abbildung 3: Die Baustelle von Helmut Müller in Gräpel (2023), © Luise Hartung, Lizenz: CC – BY – SA

Langsam nähere ich mich auf dem seitlichen Grünstreifen der Baustelle. Erst treffe ich niemanden an – die Baustelle scheint verlassen zu sein – doch nach ein paar Minuten kommt Helmut Müller mit seiner Frau, seinem Sohn und einem Mitarbeiter aus dem hinteren Garten des Grundstücks. Herr Müller ist ein großer, kurzhaariger Mann, gekleidet mit einem blauen T-Shirt und über seiner Hose trägt er Knieschoner. Zu Beginn verläuft unsere Unterhaltung etwas holprig, aber nach einigen Einstiegsfragen erweist sich Herr Müller als offener Gesprächspartner. Während unserer Unterhaltung fällt mir immer wieder die Leidenschaft, die er für sein Handwerk hat, auf. Nach seiner Lehrausbildung macht er sich 1995 selbstständig und arbeitet seitdem auf den Baustellen, deckt Dächer neu ein, pflegt oder saniert sie. Die Faszination für das Reetdach habe sich durch seine Ausbildung verstärkt, er selbst lebt auch in einem mit Reet gedeckten Gebäude und berichtet mir von dem außergewöhnlichen Wohnklima. Einen großen Vorteil bietet das Dach im Sommer: Eine zu starke Überhitzung des Dachraumes durch Sonneneinstrahlung wird gemindert, da die Dachhaut belüftet ist [2]. Herr Müller und seine Mitarbeitenden haben hauptsächlich mit historischen Gebäuden zu tun, oftmals stehen diese unter Denkmalschutz. Neubauten seien eher selten, so Müller. Ein wesentlicher Grund dafür seien die hohen Kosten für ein Reetdach, welche von verschiedenen Faktoren abhängen. Dazu gehören unter anderem erhöhte Materialkosten. Herr Müller bezieht sein Reet von einem Händlerunternehmen in Bad Oldesloe, welches rund 100 km östlich von Stade in Schleswig-Holstein liegt. Die Herkunft des Reets variiere, es stammt aus der Türkei, Rumänien, China oder auch aus Polen. In Deutschland gibt es kleinere Erntegebiete für Reet, den Bedarf deckt die deutsche Ernte jedoch nur zu etwa 10 Prozent. [4].

Um die Kosten für das Material genauer zu verstehen, ist ein Blick auf den Ernteprozess hilfreich. Die Ernteperiode für Reet liegt zwischen Anfang Oktober und Mitte März, wenn der Boden gefroren ist und die Blätter der Schilfrohrpflanze abgefallen sind. Schilfrohr wird auch Phragmites australis genannt und ist weltweit verbreitet. Sie ist eine Sumpfpflanze und wird bis zu 4 Meter groß. In langsam fließenden Gewässern kann sie in bis zu einem Meter tiefen Wasserstand wachsen. In der Hauptwachstumsphase gewinnt die Pflanze bis zu 3 cm pro Tag an Höhe [5]. Das Reet wird mit einer Mähmaschine geschnitten, anschließend für kurze Zeit am Ufer gelagert und so luftgetrocknet. Danach wird die Ernte grob abgeklopft und gekämmt, um lange Blätter und geknickte Halme zu entfernen. Im gereinigten Zustand werden die Halme zu Bunden zusammengefasst. Aufrechtstehend oder liegend werden sie bis zur Verwendung im Freien gelagert [6]. Die Erntemaschinen sind so konzipiert, dass sie auf den zugefrorenen Schilfgebieten vorsichtig die Halme schneiden können und dabei keine großen Bodenschäden verursachen. Die Wurzeln der Pflanze werden nicht mitgeschnitten und so wächst das Schilf im Frühjahr wieder nach. [5]. Wichtig ist, dass das Reet, welches zur handwerklichen Weiternutzung geerntet wird, nur ein Jahr alt ist. Das Schilf auf einer Schilffläche, auf welcher ein Jahr nicht geerntet wurde, ist kaum bis nicht mehr verwertbar, da die Halme teilweise beschädigt sind und somit nicht die gewünschte Qualität ausweisen [4]. Kommt das Material aus dem Ausland, wird es nach dem Import nach Deutschland durch ein Händlerunternehmen verkauft.

Abbildung 4: Ernteprozess vom Feld bis zur Baustelle (2023), © Luise Hartung, Lizenz: CC – BY – SA

Auch wenn die Ernte in wenigen Schritten erfolgt, ist der Prozess vor allem von der Witterung abhängig. Ebenso variieren Wachstum und Dichte des Schilfs und somit die Qualität des gewonnenen Reets jedes Jahr witterungsbedingt. Steigende Temperaturen könnten die Ernte in Zukunft auch erschweren: Ein Feld kann dann in einem immer kleiner werdenden Zeitraum des Jahres einmalig geschnitten werden, da dies nur solange sich eine Eisschicht über den Wurzeln der Pflanze befindet, auf denen die Maschine fahren kann, möglich ist. Anderenfalls können sie einbrechen und großen Schaden verursachen. Äußere Einwirkungen wie Wind, starker Regen, erhöhter Schneefall, ausbleibender oder stark verzögerter Frost können zu Ausfällen oder Verzögerungen der Ernte führen [4]. Wenn die Maschinen das Schilf aufgrund kürzerer Kältezeiten nicht mehr schneiden können, gehen auch die Vorteile eines nachwachsenden Rohstoffs verloren.

Aus Gründen des Umwelt- und Vogelschutzes sind nur begrenzte Gebiete für die Ernte freigegeben. Schilfgebiete in Wassernähe, welche zur Ernte genutzt werden, bieten vielen Vogelarten Nahrung, Versteck und ungestörte Brutplätze. Die Vögel überwintern jedoch von Spätsommer oder Herbst bis ins Frühjahr in wärmeren Gebieten, während der Ernte befinden sich also keine Vögel im Schilf. Ein EU-Projekt am Neusiedler See in Österreich zeigte jedoch, dass Vögel altes, strukturreiches Schilf zum Brüten bevorzugen. Vogelbestände können folglich auf einer sich jährlich erneuernden Schilffläche nicht erhalten werden. Bei der Bewirtschaftung des Schilfgürtels muss daher zusätzlich darauf geachtet werden, dass die Ernte in einer naturschonenden Form vorgenommen wird [7]. Herr Müller erklärt mir, dass die Ernte aus Deutschland rückläufig sei und somit mehr Import aus dem Ausland nötig sei. Ich frage mich, ob dort auch darauf geachtet wird, dass Vögel noch ausreichend unberührte Schilfgebiete zum Brüten haben?

Abbildung 5: Reetbündel auf der Baustelle von Helmut Müller in Gräpel (2023),
© Luise Hartung, Lizenz: CC – BY – SA

Helmut Müller wählt sein Material primär nach der Qualität und dem Preis aus. Auf das Herkunftsland achte er eher weniger. Wenn das Reet auf seiner Baustelle landet, verarbeitet er es auf dem jeweiligen Dach mit verschiedenen Nähtechniken. Dafür nutzt er eine große Nadel und Draht. Mit Hilfe von bestimmten Metallnadeln wird das Reet mit dem Draht an der tragenden Dachlattung befestigt. Mehrere Lagen werden aufgetragen bis eine 30-40 cm dicke Schicht entsteht, die das Gebäude vor Witterung und Kälte schützen. Mit einem Holzwerkzeug, welches an einen langen Stiel ein dickes, schräg aufgesetztes Holzbrett besitzt, wird das Reet gleichmäßig in Form geklopft, sodass die einzelnen Reethalme bündig abschließen. Wenn es im Innenraum des Daches keine Verkleidung geben soll, besteht ein Dachaufbau klassisch aus Sparren, Dachlattung und der Reetschicht. Der First kann mit Heide, Ziegeln oder Schindeln gedeckt werden [4]. Im Gegensatz zum klassischen Dachaufbau verzichtet man hier auf Kunststofffolien, was auch besonders beim Rückbau des Gebäudes von Vorteil für die Entsorgung der Materialien ist. Im Gespräch erzählt Herr Müller mir, dass sich die Techniken das Reet am Dach zu befestigen, in verschiedenen Bereichen Deutschlands unterscheiden. Man lerne während der Lehre bei einem Handwerksbetrieb eine Technik kennen, welche man dann weiterführe. Die größten Unterschiede liegen darin, ob das Reet an die Lattung genäht, gebunden oder geschraubt wird. Je nach Technik gibt es auch verschiedene Werkzeuge zur Befestigung [4]. Die Kosten für ein Reetdach seien nicht nur wegen des Materials so hoch, sondern auch, weil man speziell ausgebildetes Personal benötige. Hinzu kommt, dass das Decken eines Daches mit Reet deutlich mehr Zeit in Anspruch nimmt. Das Gebäude in Gräpel hat die Größe eines Einfamilienhauses und Herr Müller wird bis zur Fertigstellung über zwei Monate vor Ort arbeiten. Im Vergleich dazu benötigen Handwerker*innen für ein gewöhnliches Dach mit Dachziegeln nur wenige Tage. Preislich sei ein Reetdach mindestens 2,5-mal teurer, als ein Pfannendach. Bezahle man für einen Quadratmeter Dachziegel zwischen 20 und 30 Euro, so kostet ein Quadratmeter Reetdach schätzungsweise 80 bis 130 Euro, so Müller. Pro Quadratmeter Deckfläche benötigt man je nach Länge und Stärke des Rohrs 10 bis 12 Bunde Reet und etwa 50 m Draht. Die Halme eines Bunds sind zwischen 140-170 cm lang und der Bundumfang beträgt 55 cm. Soll ein Neubau mit Reet gedeckt werden, sind aber nicht nur finanzielle Voraussetzungen maßgebend, sondern auch baurechtliche. Bei der Planung der Abstandsflächen des Gebäudes zur Grundstücksgrenze sind in Niedersachsen 8 Meter vorzusehen. Diese Regelung verärgert Herrn Müller, da das Bundesland Schleswig-Holstein 2 Meter weniger fordert. Dort ist ein Abstand von 6 Metern einzuhalten, erklärt Müller. Ein Grundstück in Niedersachsen muss allein eine Grundstücksbreite von mindestens 24 Metern haben, um darauf ein 8 Meter breites Gebäude zu errichten. Solche Dimensionen erreichen Grundstücke in städtischer Umgebung nur in seltenen Fällen. Die Regelung der Abstandsfläche wird mit dem Brandverhalten des Materials begründet. Reet ist ein leicht entflammbarer Baustoff und gilt als weiche Bedachung [6]. Diese Eigenschaft führt wegen des potenziellen Brandüberschlags zu einer schärferen Regelung der Abstände zu anderen Gebäuden und Grenzen. Ein Reetdach hat eine Gebrauchsdauer von 30 bis 50 Jahren, wenn es entsprechend gepflegt und gewartet wird [6]. Helmut Müller begutachtet, wartet und pflegt Reetdächer regelmäßig. Mit dem Decken des Daches sei die Arbeit nicht getan. Besitzer*innen müssen bei einem Dach aus natürlichen Baustoffen damit rechnen, es warten zu lassen, um eine möglichst lange Lebensdauer zu erreichen [4]. Solche Wartungen führt er bei einem neuen Dach nach ungefähr 10 Jahren durch. Auch diese Arbeit ist ein Kostenfaktor, der bei der Entscheidung für oder gegen ein Reetdach bedacht werden muss. Ein Reetdachhaus zu besitzen, es zu pflegen, zu warten, oder neu zu decken, ist eine finanzielle Herausforderung. Menschen, die sich das leisten können, müssen einer bestimmten sozialen Schicht angehören. Bei denkmalgeschützten Gebäuden können staatliche Mittel beantragt werden, welche die Erhaltung, Sicherung und Restaurierung unterstützen. Die Möglichkeit, finanzielle Förderung zu erhalten, besteht sowohl für Kommunen als auch für Privatpersonen [8]. Helmut Müller spricht davon, dass bis zu 30 Prozent der Kosten übernommen werden können. Trotz Förderung bleibt ein Reetdach aus der Sicht von Helmut Müller eine kostspielige Angelegenheit. In der Folge seien immer wieder Gebäude zu finden, deren Reetdächer aufgrund mangelnder Pflege verfallen, was häufig Unbewohnbarkeit nach sich zieht.

Im Gegensatz dazu entstand 2017 ein privates Wohnhaus unter der Leitung des Architekten Norbert Möhrung im Ostseebad Prerow in Mecklenburg-Vorpommern, welches den traditionellen Wert eines Reetdaches mit moderner Formsprache verbindet. Mit einer markanten gespiegelten und doch weich strukturierten Fassade steht das Einfamilienhaus in der Siedlung. Die Besonderheit bei diesem Wohnhaus ist der Gebäudeteil mit dem Dach und der Fassade aus Reet. Das ortsprägende Handwerk verpackte der Architekt in neue Formen und so endet das Reetdach nicht an der Traufe, sondern geht nahtlos in die Wand über. Es scheint, als wäre der Kubus von einer organischen Hülle umschlossen [9]. Bauwerke wie diese zeigen, dass Reet auch einen modernen Charakter einnehmen kann und dass es nicht nur als Dachdeckung dienen, sondern auch die Fassade bekleiden kann. Dieses Einfamilienhaus erscheint dennoch als Einzelfall und zählt zum gehobenen Wohnungsbau. Reet als Baustoff kann aber auch in Dämmplatten aus Schilfgranulat oder Fertigwandbauteilen Verwendung finden [5]. Grundsätzlich erscheint der Baustoff Reet als ressourcensparende Alternative zum Ziegeldach. Das geschnittene Reet wird sortiert und getrocknet, bis zur Verarbeitung auf der Baustelle müssen keine energetisch aufwendigen Prozesse wie das Brennen von Dachziegeln durchgeführt werden. Der CO2-Fußabdruck spricht auch für die Nutzung von Reet in einer Baubranche, die ihre Emissionen und ihren Energieverbrauch dringend senken muss. Ob Reet ein Baustoff der Zukunft sein wird, bleibt jedoch unklar. Derzeit scheint diese nachhaltigere Lösung nur sozialen Schichten vorbehalten zu sein, welche über die entsprechenden finanziellen Mittel und, vor allem in Niedersachsen, über ein ausreichend großes Grundstück verfügen. Unter anderem erschweren diese Gegebenheiten den Zugang zu Reet und sorgen dafür, dass sich Bauherr*innen noch immer überwiegend für die weit verbreiteten Dachziegel entscheiden. Ein kulturelles Erbe, eine Handwerkskunst, die über Generationen weitergegeben wurde, bleibt bisher nur denkmalgeschützten Gebäuden oder teuren Neubauten vorbehalten. Erst, wenn sich an Stellschrauben wie den Kosten oder rechtlichen Regelungen etwas ändert, kann Reet ein zukunftsgewandter Baustoff sein. Jedoch bleiben Fragen nach dem Umwelt- und Vogelschutz sowie dem Klimawandel. Wie kann langfristig eine naturschonende Ernte des Schilfs gewährleistet werden, wenn sich durch den Klimawandel die Temperaturen verändern? Das Freilichtmuseum ist wichtig für den Tourismus und die Geschichte der Baukultur im Stader Raum. Der Ort bietet Veranstaltungen wie Theateraufführungen im Garten oder historische Führungen durch die Fachwerkhäuser. Das Reetdach trägt maßgebend zum besonderen Charakter des Gebäudeensambles bei. Bleibt dies ein Einzelfall in Stade oder kehrt die Handwerkstechnik zurück und wird ein Zeichen für nachhaltige Baukunst?

[Lizenz: CC – BY – SA]

Quellen:

[1] Museumsverein Stade e.V. Geschichte des Museums. https://www.museen-stade.de/freilichtmuseum/museumsgeschichte
[2] Schattke, W.. 1985. Das Reetdach: natürliches Wohnen unter sanften Dach – von der Urzeit bis heute, erweiterte 2. Auflage. Schleswiger Druck- und Verlaghaus: Schleswig.
[3] Deutsche UNESCO-Kommission. Bundesweites Verzeichnis Immaterielles Kulturerbe: Reetdachdekcer-Handwerk. https://www.unesco.de/kultur-und-natur/immaterielles-kulturerbe/immaterielles-kulturerbe-deutschland/reetdach
[4] Grützmacher, B. 1981. Reet- und Strohdächer: Alte Techniken wiederbelebt. Verlag D. W. Callwey: München
[5] G. Holzmann and M. Wangelin. 2009. Natürliche und pflanzliche Baustoffe: Rohstoff – Bauphysik – Konstruktion. Vieweg+Teubner: Wiesbaden.
[6] Schnuck, E., Oster, H.J., Barthel R. und Kießl, K. 2002. Dach Atlas: Geneigte Dächer, Vierte Auflage, neu bearbeitet. München: Institut für internationale Architektur-Dokumentation.
[7] Amt der Burgenländischen Landesregierung. 2020, Dezember 14. Neusiedler See: Feuer als Helfer für Vogelschutz und naturschonende Schilfernte. https://www.burgenland.at/news-detail/neusiedler-see-feuer-als-helfer-fuer-vogelschutz-und-naturschonende-schilfernte/
[8] Niedersächsisches Landesamt für Denkmalpflege. Baudenkmalpflege, Finanzielle Förderunghttps://denkmalpflege.niedersachsen.de/landesamt/baudenkmalpflege/aufgaben-06-141321.html
[9] Merz, R. 2021, Juni 30. Tradition & Moderne: Der Architekt Norbert Möhring und seine Reetdachhäuserhttps://meter-magazin.de/de/wohnen/19195-tradition-moderne