VERSTEHEN: Das anatomische Geschlecht als soziale Konstruktion
In der vorhergehenden Lektion hast Du die Unterscheidung zwischen Sex und Gender, zwischen dem biologischen und dem sozialen Geschlecht, kennengelernt. Mit dieser Unterscheidung wird betont, dass das soziale Geschlecht nicht vom biologischen Geschlecht abgeleitet werden kann, gesellschaftliche Rollen und Positionen also nicht naturgegeben sind.
Das biologische Geschlecht wird hingegen als außerhalb gesellschaftlicher Einflüsse, eben als natürlich gedacht. Gegen diese Unterscheidung hat es seit Anfang der 1990er Jahre vielfältige Einwände gegeben, die herausstellen, dass auch unsere Vorstellungen vom biologischen Geschlecht nicht frei von dem Einfluss gesellschaftlicher und historischer Interaktion und Interpretation ist. Darum geht es in dieser Lektion.
Gender und Sex als soziale Konstruktion
Im Folgenden geht es um ein Verständnis von Geschlecht, wonach sowohl Sex als auch Gender sozial konstruiert sind. Dabei geht es nicht darum, zu behaupten, unsere Körper seien nicht so – oder sogar gar nicht vorhanden, sondern darum, ihre historisch und kulturell spezifische Konstruktion zu untersuchen. Wie beinflussen unsere Umwelt und soziale Normen unseren Körper?
Für die Ausweitung unseres Verständnisses davon, was gemeint ist, wenn wir von der sozialen Konstruktion von Gender (und Sex) sprechen, ist in den deutschsprachigen Gender Studies der Name Judith Butler zentral.
Wie bereits in Lektion 2.4 “Soziales Geschlecht” erwähnt, hat Judith Butler in ihrem 1990 erschienen Buch „Gender Trouble“ die These aufgestellt, dass das anatomische Geschlecht nicht die natürliche Grundlage ist, als das es bisher vielfach verstanden wurde, sondern ebenso eine soziale Konstruktion wie das soziale Geschlecht. Sie hinterfragte besonders Vorstellungen, wonach Frauen eine einheitliche Gruppe sind und es nur zwei, genau zwei Geschlechter gibt.
Das Argument, dass das antatomische Geschlecht eine soziale Konstruktion ist, betrifft unsere Vorstellung von Körpern. Dabei geht es nicht darum, dass es keine Körper gibt – schließlich sind sie für uns alle alltäglich erfahrbar. Vielmehr werden die Vorstellungen über Körper hinterfragt, die sich in das Empfinden über ‘unseren’ Körpern eingeschrieben haben. Der Körper wird zu einem sozial und medizinisch komplexen Gegenstand. Die Philosophin Antke Engel schreibt dazu:
Es gibt nicht einfach den Körper – es gibt das Körpergeschlecht, das bei der Geburt erstmalig und im Laufe des Lebens immer wieder (formal, institutionell, diskursiv) zugeschrieben wird; es gibt ein subjektives geschlechtliches Körperempfinden, das sich im Laufe der Zeit verändert; es gibt die Wahrnehmung des Körpers durch andere, mittels derer immer wieder Geschlechtlichkeit geordnet wird; es gibt eine habituelle oder situative Expressivität; es gibt einen Körpergeschichte verschiedenster psychischer und physischer Erfahrungen (…)
Was unser Körper ‚ist‘, wird also auf verschiedenen Ebenen bestimmt, die von den Gender Studies analysiert werden. Im nächsten Abschnitt schauen wir uns an, wie das anatomische Geschlecht zu verschiedenen Zeit eingeteilt, bezeichnet und damit gesellschaftlich hergestellt wurde.