VERSTEHEN: Geschlecht und soziale Normen

Bevor wir uns die Norm der Zweigeschlechtlichkeit genau anschauen, klären wir zunächst, was gesellschaftliche Normen sind und wie sie wirken.

Was sind soziale Normen?

Erwartungen daran, wie Menschen sich ihrem Geschlecht, ihrem Alter oder ihrer sozialen Herkunft entsprechend verhalten sollen. Diese Erwartungen werden auch als soziale Normen bezeichnet. Soziale Normen sind Handlungsanweisungen, die unser soziales Verhalten regulieren. Sie sind gesellschaftlich entstanden und es ist eine Aufgabe von Gesellschaftsforschung zu ergründen, wo sie herkommen. Soziale Normen enthalten stereotype Aussagen darüber, wie Männer oder Frauen sich angeblich typisch oder natürlicherweise verhalten. Das heißt, ihnen liegen oft Geschlechterstereotype zugrunde, wie sie in der Lerneinheit zu “Gender” in Lektion 1 diskutiert wurden.

Der Soziologe Heinrich Popitz benutzt den Vergleich mit einer Ampel um die Wirkung von sozialen Normen auf unser Verhalten zu verdeutlichen:

Die Normgebundenheit des sozialen Verhaltens ist eine einfache, ja triviale Alltagserfahrung: wir geraten ständig an Kreuzungen, die mit grünen und roten Signalen versehen sind, — in soziale Situationen, die offenbar bereits von anderen entdeckt, fixiert, vorgeformt sind. Es steht uns nicht frei, diese Vorgeformtheit, diese Besetzung von Situationen mit positiv und negativ bewerteten Alternativlosungen ohne weiteres zu ignorieren. Wenn wir uns um die grünen und roten Lichter nicht scheren, wird unser Verhalten dennoch von anderen als eine Antwort auf diese Signale interpretiert, – auch wenn es gar nicht in unserer Absicht lag, uns eine Frage stellen zu lassen.​

Popitz betont, dass wir soziale Normen nicht einfach ignorieren können. Egal, ob wir dies wollen oder nicht: Andere Menschen beurteilen und bewerten unser Verhalten auf der Grundlage sozialer Normen.

Geschlecht und soziale Normen

Alltäglich begegnen uns die Ampelsignale der sozialen Normen in Form von abwertenden Blicken, Beschimpfungen, Witzen, physischer Gewalt, Darstellungen auf Werbeplakaten, Drohungen, Ignorieren oder Auslachen.

Frauen werden in der U-Bahn komisch angeschaut, wenn sie breitbeinig sitzen. Mädchen werden als Schlampe beschimpft, wenn sie sexuell aktiv sind, während das gleiche Verhalten bei Jungs als cool gilt. Männer werden als Weicheier bezeichnet, wenn sie sich gegenseitig in den Arm nehmen und trösten. Trans-Personen werden beschimpft, wenn sie für andere nicht eindeutig einem Geschlecht zuzuordnen sind.

Soziale Normen bieten Menschen einen Rahmen um ihr eigenes und das Verhalten und die Werte von anderen Menschen zu beurteilen. Sie geben Orientierung und bilden einen gemeinsamen Verhaltenskodex. Andererseits sind sie Ausdruck von Vorstellungen darüber, was zu einer bestimmten Zeit als normal und natürlich gilt. Solche Vorstellungen verändern sich über die Jahrhunderte und führen zu Ausschlüssen, Benachteiligungen und Gewalt gegen Personen, die nicht in die soziale Norm passen. Die Norm der Zweigeschlechtlichkeit ist beispielsweise eine solche Norm, wie in der nächsten Lektion erläutert wird.