Der Begriff „asozial“ sollte unbedingt vermieden werden. Die Stigmatisierung, Ausgrenzung und Verfolgung, die der Konstruktion „asozial“ zugrunde liegen, haben eine komplexe Geschichte:
Der Begriff tauchte zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der Literatur auf und fasste von Anfang an pauschal negative Zuschreibungen und „abweichendes Verhalten“ wie „Arbeitsscheue“ oder „Unangepasstheit“ zusammen. Durch das Fehlen einer eindeutigen Definition konnte das Stigma der „Asozialität“ in den 1920er Jahren beliebig auf Personen und Personengruppen ausgedehnt werden und so nahezu jedem Ausschluss und jeder repressiven Maßnahme Legitimation verleihen. Im Nationalsozialismus wurden Menschen als sogenannte „Asoziale“ verfolgt, in Anstalten, Arbeitshäuser oder Konzentrationslager deportiert, zu Zwangsarbeit gezwungen, zwangssterilisiert und ermordet, darunter Wohnungslose, Empfänger:innen von Sozialleistungen, Sinti:zze und Roma:nja, Jüd:innen und Juden, politisch Verfolgte, Schwule und Lesben, Prostituierte, Suchtkranke, Unterhaltssäumige sowie zum Teil auch ihre Familienangehörigen. Nur die wenigsten Opfer haben eine Rehabilitierung erfahren und/oder eine Entschädigung erhalten. Die Aufarbeitung dieser Verbrechen sowie die notwendige Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Kontinuitäten verläuft bislang sehr schleppend.
Erst 2020 beschloss der deutsche Bundestag, die als sogenannte „Asoziale“ und als „Berufsverbrecher“ Verfolgten offiziell als NS-Opfer anzuerkennen. Sie wurden sowohl in der BRD und DDR als auch innerhalb der verschiedenen Verfolgtengruppen jahrzehntelang nicht als Verfolgte des Nationalsozialismus anerkannt. Immer noch dienen das Stigma „Asozialität“ und die heute damit verbundenen Begrifflichkeiten dazu, ganze Bevölkerungsgruppen abzuwerten und auszugrenzen.
Quelle: Stegemann, Dirk: „Arbeitsscheu“ und „asozial“ in GID 220, Oktober 2013, 29. Jahrgang.